Kant haut ab!

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Die Tür geht auf und Immanuel rennt los, ohne sich ein einziges Mal umzuwenden. Die Frau beobachtet, wie er sich durch das hohe Gras davonmacht. Nachdem ihn das Dickicht verschluckt hat, seufzt die Frau erleichtert und gleichzeitig mit ein bisschen Wehmut und schließt die Tür des Außengeheges.

Immanuel war ihr letzter gewesen. Der letzte von fünf Igeln, die die Bäuerin im Spätherbst aufgenommen hatte. Stachelige Winzlinge, viel zu leicht und viel zu klein. Die Igelin hatte wohl das Überqueren der Freilandstraße nicht mehr rechtzeitig geschafft. Zufällig hatte die Frau das Igelnest im Stroh beim Kälberfüttern gefunden. Neben bereits verhungerten Jungtieren hatte sie die Kleinen entdeckt und dem Tierarzt gezeigt. Ob sie sich nicht um die Igelchen kümmern könne, in der Auffangstation habe man keinen Platz mehr. Bevor sie ablehnte, hatte er ihr erklärt, was zu tun sei, und war eilig davongefahren.

Seit das Dorf sich dem Bauernhof näherte, sich Einfamilienhaus um Einfamilienhaus vorwärtsschob, aus blühenden Kuhweiden und Maisfeldern ummauerte Gärten mit strammem Kurzrasen und fleißigen Mährobotern wurden, zeigten sich öfter Wildtiere auf dem Hofgelände. Schwalben und Spatzen hatte es immer schon gegeben. Feldhasen und Rehe lebten im kleinen Waldstück bei der Straße. Letztes Jahr kamen die Turmfalken, brüteten zum ersten Mal im alten Taubenschlag. Gleichzeitig fand ein Marder ein gutes Versteck. Und mehrere Igelinnen bauten sich Nester. Die Kinder der Bäuerin kamen aufgeregt gelaufen, zeigten die Fotos der neuen Mitbewohner. Verfolgten die Flugversuche der Falken.

Die kleinen Igel mussten von Parasiten befreit, aufgewärmt und mit Katzenaufzugsmilch gefüttert werden. Die Kinder freuten sich über die pieksigen Tierbabys und recherchierten im Internet über ihre Aufzucht. Dem Bauern gefiel das alles weniger gut, er sagte aber nichts. Manchmal warf er abends einen Blick in die Igelkinderstube. Der Tierarzt erkundigte sich regelmäßig nach dem Gewicht der Pfleglinge und untersuchte sie. Nachdem sich die Kleinen genug Fettreserven für den Winterschlaf angefressen hatten, wurden sie in einem geschützten Teil des Stalls eingewintert und im Frühling noch einmal gründlich durchgecheckt. Einer der Stachelbrüder hatte viel Gewicht verloren und musste noch einmal behandelt und aufgepäppelt werden. Und weil er so nachdenklich dreinschaute, so als ob er tiefgründige philosophische Gedanken mit sich herumtrüge, nannte die Frau ihn Immanuel. Vielleicht auch weil sie sich mehr Vernunft wünschte, von den Menschen um sie herum, und mehr Mut.

Als die Frau gerade zum Haus zurückkehrt, trifft sie auf den Bauern. „Und, ist er jetzt weg, dein Philosoph?“ Sie nickt und lächelt in sich hinein. Dann deutet sie auf den Taubenkobel. „Du hast übrigens einen Vogel. Einen ziemlich großen.“ Zuerst blickt er sie überrascht an, darauf schaut er hoch und meint: „Einen großen Vogel, sagst du? Ich dachte, es wären mindestens drei…“

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