Besitzanspruch

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„Wir müssen reden!“ Ernst und eine gewisse Sanftheit lagen in seiner Stimme. Er sah frisch rasiert aus und hatte diese Lederjacke an, die er früher öfter getragen hatte. So hatte sie ihn schon lange nicht mehr gesehen. Sie zögerte. Er war erst vor Kurzem ausgezogen. Nach fünfundzwanzig Jahren Ehe und drei Kindern. Der Jüngste war gerade sechzehn geworden, da hatte sie ihn dazu aufgefordert, sich eine eigene Wohnung zu suchen. 

Die letzte Unterhaltung war ein Durcheinander aus Schreien und Zerschlagen gewesen. Geschirr, Möbel und ihr Gesicht hatten Spuren davongetragen. Die Wunden fingen erst an zu heilen. Man sah es ihr noch an. Sie hatte ihn ruhig gebeten zu gehen, und er hatte sich dagegen aufgebäumt und ihr alles an Worten entgegengeworfen, was ihm untergekommen war. Aber es hatte nichts genutzt. Schließlich hatte ein aufmerksamer Nachbar die Polizei gerufen. Da war er gegangen.  

Sie wusste nicht, wie sie reagieren sollte. Ihren Gefühlen konnte sie nicht trauen. Sie hatte ihn die letzten fünfundzwanzig Jahre geliebt, sie hatte Kinder mit ihm. So einfach wischt man das nicht weg. Gleichzeitig hatte ihr sein letzter Ausbruch gereicht. Endgültig. Nie wieder sollte er sie so behandeln, nie wieder sollte eines der Kinder das miterleben müssen. 

Der Jüngste war heute nicht zu Hause. Wenn er seinen Vater gesehen hätte, hätte er ihm die Tür vor der Nase zugeschlagen und die Polizei gerufen. Aber sie war allein. Nicht dass sie sich in den letzten fünfundzwanzig Jahren anders gefühlt hätte. Einsam. Ihr Mann war ständig mit seinem Business beschäftigt gewesen. Zuerst die Arbeit, dann die Familie. Sie hatte oft auf ihn gewartet. Vergeblich. Er war erschöpft im Auto eingeschlafen oder hatte es nur bis zur Küchenbank geschafft und lag mit dem Kopf auf den Unterarmen neben seinem Abendessen. Morgens hatte sie ihn so vorgefunden, wenn er denn nicht schon wieder aufgestanden und in die Arbeit gefahren war. 

Die Kinder hatten ihn kaum gesehen. Als sie noch klein waren, hatten sie Angst vor ihm gehabt. Wie ein Fremder hatte er das Haus besetzt. Als sie größer geworden waren und seine Aufmerksamkeit zu beanspruchen begannen, warf er ihnen kurze Augenblicke zu, verschwand dann aber wieder wochenlang aus ihrem Blickfeld.  

Wenn er einem seine Zeit schenkte, dann fühlte man sich wie unter einer Wärmelampe. Sie kannte es. Diese wohlige Geborgenheit. Ein Gefühl, in dem man baden mochte. Es hielt nur nicht lange. Zurück blieb die eisige Einsamkeit. Die Frau hatte sie in den letzten Jahren mit ihm geteilt. Ohne jede Wärme. Nur für die Kinder, so hatte sie es sich eingeredet. Aber die waren jetzt außer Haus. Bis auf den Jüngsten. Der würde auch nicht mehr lange bei ihr bleiben. Dann wäre sie allein. Wieder einsam. Aber ohne die Kälte, die ein Mensch ausstrahlt, der neben einem her lebt, ohne einen zu beachten. Der mit einem in demselben Bett liegt und doch in Gedanken kilometerweit weg ist. Allein ist es besser. Da gibt es keine Sehnsucht nach einem Menschen, der nichts von sich hergibt. 

Sie seufzte. “Worüber möchtest du reden? Ich nehme nichts von dem zurück, was ich gesagt habe.” Als sie in seine Augen blickte, wirkten sie ernst und entschlossen. “Ich weiß”, antwortete er, “ich will dich auch nicht zu irgendetwas überreden. Keine Angst, ich werde nicht wieder bei dir einziehen oder dich sonst bedrängen. Ich möchte einfach damit abschließen können. Ein halbes Jahrhundert wischt man nicht einfach so weg.” Sie nickte. “Das stimmt wohl.” Dann überlegte sie. Er machte einen Schritt auf sie zu. “Du kommst mir aber nicht ins Haus!” Wenn sie allein mit ihm wäre, könnte er wieder alles kaputtschlagen. Er wirkte etwas unzufrieden, nickte aber schließlich. “Gut, das habe ich mir wohl selbst eingebrockt.” Sie standen einander unentschlossen gegenüber, beobachteten einander skeptisch. Dann schlug er vor: “Wir könnten spazieren gehen. Das haben wir früher manchmal gemacht.” Sie lacht auf. “Früher? Das war noch vor den Kindern. Das ist zwanzig Jahre her, dass du mit mir spazieren gegangen bist…” Bitterkeit schlägt ihm entgegen. Er nickt wieder, senkt den Kopf. “Ich möchte nicht vor der Tür stehen. Das wird einfach zu kalt… Bewegung könnte uns guttun.” Das klingt plausibel, also zieht sie die dicke Daunenjacke an und schlüpft in die Stiefel. “Es wundert mich nicht, dass du in der Lederjacke frierst. Das Futter ist nicht besonders dick.” Sie stapft neben ihm den kurzen Weg zum Gartentor und folgt ihm dann auf dem Gehsteig aus der Wohnsiedlung hinaus. Sie weiß, dass die Nachbarn sie beide beobachten, deswegen hat sich auch kein schlechtes Gefühl. 

Eine Weile marschierten sie schweigend die Wohnstraße entlang und bogen dann auf die Landstraße ab. Die Autos rasten an ihnen vorbei. Es war wirklich eisig, der Wind machte es noch schlimmer. In den letzten Tagen war es für Februar ungewöhnlich warm gewesen, aber der Winter war zurückgekehrt. Nun spürte sie es richtig. Sie hatte ihre Haube zu Hause liegen lassen. Vielleicht sollte sie ihm erklären, dass sie schnell umdrehen und sie holen müsse. Dann könnte sie einfach die Tür hinter sich schließen und den Schlüssel umdrehen. Und musste sich mehr nach draußen. Und nicht mit ihm reden.  

Bevor sie ihre Gedanken zu Ende gedacht hatte, kamen sie an dem Waldstück am Ende der Siedlung an. Hier war sie oft mit den Kindern gewesen. Etwas weiter drinnen, zwischen den Bäumen gab es einen netten Spielplatz, wo sich manchmal auch junge Pärchen trafen. Sie überlegte, wie lange sie schon nicht mehr in diesem Wäldchen gewesen war. Unglaublich. Hier wollte er also mit ihr reden? In einigen Metern Entfernung sah sie zwei Holzstöße liegen. Der Waldbesitze hatte mehrere Stämme schlagen und zurechtsägen lassen. Es duftete nach frischem Harz. Der Boden war etwas aufgewühlt. Das erinnerte sie an ihre Kindheit. Sie atmete tief ein. Allein dafür hatte sich der Spaziergang hierher gelohnt. Es schien ihr, also könne sie ihm nicht mehr böse sein, egal, was er ihr nun erzählen wollte.  

Etwa auf Höhe der Holzstöße bleib er stehen. “Es ist sehr friedlich hier”, hörte sie sich sagen. Er wandte sich um, sah sie an und nickte. Dann trat sie neben ihn. “Wir sind recht weit gegangen, aber geredet haben wir nicht.” Nun sah er zu Boden. Einen Augenblick später wandte er sich ihr zu. Jetzt sah er wieder sehr entschlossen aus. Er griff in seine Jacke, zog etwas hinter seinem Rücken hervor. Erschrocken wich sie zurück. Als der Schuss die Stille des Waldes zerbrach, war sie bereits tot.  

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