Fallen

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Christian rennt die Treppe hoch. Vor ihm unendlich viele Stufen, hinter ihm die Verfolger. Er kann sie nicht sehen, hört aber, wie sie sich nähern. Während er kaum noch Luft bekommt, spürt er einen metallischen Geschmack in seinem Mund. Sein Herz drückt sich mit aller Gewalt durch den Hals ins Hirn. Aber Christian darf nicht stehen bleiben. Weiter und weiter nach oben. Sie sind hinter ihm. Da, das obere Podest der Treppe scheint erreicht. Vor ihm zeigt sich eine Tür. Er reißt sie auf und fällt ins Nichts. Er fällt. Das ist alles. Um ihn herum ist nichts und niemand und er erreicht auch keinen Boden, auf dem er aufschlagen, sich alle Knochen brechen und sterben könnte. Er fällt einfach nur und erwacht mit einem Zucken, das seinen gesamten Körper erfasst. Sein Herz rast. Er starrt in die Dunkelheit, bleibt aus Angst wach.

Christian hatte seine Mutter bekniet. Ob er als Baby oder Kind einmal irgendwo heruntergefallen sei. Sie könne es ihm ruhig sagen, er mache ihr keinerlei Vorwürfe, wenn es so gewesen wäre. Doch sie schüttelte nur den Kopf und sah ihn misstrauisch an. Ob er in der Schule verunfallt wäre und sich einfach nicht mehr erinnerte, fragte er alte Bekannte und Freunde. Aber auch davon wusste niemand etwas. Dann fiel er wieder, saß die ganze Nacht in der Küche und grübelte.

Er begann zu recherchieren, suchte in Archiven nach Sturzunfällen, die sich in seiner Wohnumgebung ereignet hatten und fand viele Berichte über Kinder, die aus ungesicherten Fenstern gefallen waren. Aber Christian war nicht darunter. Er war nie gestürzt, auch nicht mit Absicht – kein Bungee-Jump, kein Fallschirm-Sprung, nichts. Und sauste nachts wieder ins Bodenlose, um schwitzend und zuckend zu erwachen.

So verfiel er dem Fall, stürzte sich in die Verzweiflung. Der Sog des Nichts wurde stärker und stärker, genauso wie der Mangel an Schlaf. Ein Arzt verwies ihn an ein Schlaflabor. Er unterzog sich selbst mehreren Ernährungsumstellungen, saß bei einer Psychologin und fiel nachts wieder in die Dunkelheit.

“Schreib deinen Traum auf”, hatte ihm eine wohlmeinende Seele geraten. “Gleich nach dem Aufwachen. So detailliert wie möglich. Und dann scripte dir etwas Neues. Ein alternatives Ende.” Christian gelang es nicht gleich, etwas zu notieren. Aber jeder Sturz brachte ihm mehr Einzelheiten. Der Ablauf wurde klarer, er kannte bald alle Variationen des Themas. Schließlich fühlte er sich wie in einem Horrorfilm, den man zu oft gesehen hat und bei dem man den kreischenden Teenies zurufen möchte: “Macht euch keinen Stress, in zwei Sekunden kleben eure Innereien sowieso auf dem Teppich.”

Eines Nachts wird Christian wieder durch das Stiegenhaus gehetzt, hastet die Stufen nach oben. Aber dieses Mal bremst er ab und wendet sich um. Heute Nacht will er seine Feinde sehen. Ihnen entgegentreten. Also geht er auf sie zu. Erst zaghaft, dann entschlossen. Jetzt müsste er auf die Verfolger treffen, er fühlt, wie sein Puls stolpert. Aber da ist nichts. Nur die Nacht.

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