Der Schatten

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„Eine ehemalige Studienkollegin von dir hat angerufen, eine Jutta. Sie wollte deine Nummer haben, um sich bei dir zu melden.“ Was ihre Mutter da gerade erzählt, jagt Elisa kalte Schauer über den Rücken. „Du hast doch nicht …“ – „Natürlich nicht. Ich würde auch nicht wollen, dass du meine Kontaktdaten weitergibst, ohne mich zu fragen.“ Elisa seufzt erleichtert. „Wer ist diese Jutta?“, will ihre Mama wissen. Elisa überlegt kurz, wie sie das erklären soll.

Elisa war Ende der 1990er Jahre im zweiten Studienjahr, engagierte sich in der Studierendenpolitik, nahm an Debatten und Demos teil, verteilte Flyer und organisierte Treffen. Obwohl sie an einer kleinen Universität studierte, ging sie recht offen mit ihrer Bisexualität um. Für sie war das selbstverständlich. Bei einem der Treffen lernte sie Jutta kennen, die ihr durch ihr merkwürdiges Verhalten auffiel. Elisa unterhielt sich daher nur kurz mit ihrer Studienkollegin. Am nächsten Tag rief Jutta an, um drei Uhr morgens, und deutete Elisa gegenüber an, dass sie sich in sie verliebt habe. Elisa versuchte sofort, so sanft und gleichzeitig deutlich wie möglich ihr Desinteresse an einer möglichen Beziehung zu artikulieren. Es nutze nichts. Eineinhalb Wochen später kam der nächste Anruf, dieses Mal um zwei Uhr früh.

In den nächsten Jahren wurde Jutta Elisas ständige Begleiterin. Mindestens einmal im Quartal nahm die Unerwünschte Kontakt auf. Die Nummer zu blockieren, hatte nichts gebracht, keine anonymen Anrufe entgegenzunehmen, ebenfalls nicht. Elisa hatte währenddessen verschiedene Beziehungen mit Frauen und Männern, schloss ihr Studium ab, arbeitete im Ausland, wechselte den Mobilfunkanbieter und die Nummer, gab zwei E-Mail-Accounts auf, bekam ein Kind. Dann war plötzlich Funkstille, fast zehn Jahre lang. Jutta meldete sich nicht mehr. Und Elisa hatte sie bald vergessen. Bis heute.

Wie hatte Jutta die Nummer herausfinden können? Sie kannte zwar Elisas Familiennamen und wusste ungefähr, woher diese stammte, aber die Eltern zu finden dürfte nicht einfach gewesen sein. Das fühlt sich unheimlich an. Unwillkürlich kommen Elisa Erinnerungen an weitere Gruselmomente hoch – an Arbeitskollegen, die plötzlich in der Umkleide standen, eine Kollegin, die sich eingebildet hatte, Elisa wäre unglücklich in sie verliebt und würde ihr hinterherlaufen, einen betrunkenen Klienten, der seine Hände nicht bei sich behalten wollte, einen guten Freund von Elisas Vater, der ohne anzuklopfen ins Badezimmer gestolpert war und hinterher im Wohnzimmer verkündet hatte, wenn man so eine große Tochter habe, brauche man keine Ehefrau mehr. Da war Elisa gerade zwölf Jahre alt gewesen.

Sie holt tief Luft, dann sagt sie: „Jutta ist ein Schatten, den ich anscheinend nicht mehr loswerde. Diese Frau ist offensichtlich psychisch krank. Bitte gib ihr auf keinen Fall meine Telefonnummer oder Adresse.“ Die Mutter verspricht es und verabschiedet sich. Elisa legt auf. Dann ist ihr schlecht.

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